FILMREIHE POSTMIGRANTISCHE AUDIOVISIONEN #2.2

Postkolonialismus & Postmigration. Hito Steyerls „Deutschland und das Ich“*

*Essayfilm, 40 min, Farbe

Spontane Straßenaufnahmen von Betrunkenen, die nationalistische Parolen grölen; Großaufnahmen einer Frau, die philosophische Recherchen zu Identität betreibt; Ausschnitte aus Talkrunden zur Identitätsfrage in Deutschland; unruhige Schwenks von Totenmasken im Münchner Stadtmuseum: In dem 1994 entstandenen Essayfilm Deutschland und das Ich der Künstlerin Hito Steyerl denken die Bilder zu der gesprochenen Sprache und mit unserem Denken mit.

Warum ist die Identitätsfrage in Deutschland so aufreibend? Was macht den Diskurs zu jener Zeit aus – einer Zeit, in der Rechte mehrfach Morde durch Brandanschläge an Migrant:innen verübt haben? Was hat sich mit Blick auf heute durchgehalten oder verändert? Welches Begehren artikulieren die filmischen Bilder und wie stehen sie zu den diskursiv aufgeworfenen Fragen?

Die Veranstaltung reflektiert den Status „nationaler Identität“ angesichts zweier zentraler Konzepte, die für ein Verständnis des Zusammenlebens in Deutschland immer wichtiger werden: Postkolonialismus und Postmigration. Die Reihe lädt Steyerls Doku und das interessierte Publikum zum Mitdenken im Raum “Hochschulkino” ein.

Warum „Kino-Denken“ 2.2? Die Hochschule ist ein Ort wissenschaftlichen Denkens, in dem das filmische Bild seine Aufführungen findet. Indem wir das Denken mit Film am Ort „Hochschule“ gemeinsam performen, schreiben wir die Geschichte der Doku fort; verbinden Sie mit unserer eigenen Gegenwart und unserer eigenen Situation. Immer dort, wo mehrere Menschen zusammenkommen, um auf einer Leinwand filmische Bilder zu erfahren, ist Kino. Der Ort des Kinos ist also nicht prädeterminierbar, sondern das Kino emergiert als Dispositiv immer wieder neu. Auch über unsere Lage, Film, Hochschule und Bildung werden wir also im Sinne eines „Kino-Denkens“ sprechen.

Die Kunsthistorikerin Jolanda Wessel wird in das vielschichtige Werk Steyerls und zum Film einführen. Das Gespräch mit dem Publikum eröffnet Dr.in Lena Geuer, gemeinsam mit Prof. Dr. Ömer Alkin. Begleitet wird die Diskussion von Einsichten aus ihrem gemeinsamen Sammelband „Postkolonialismus und Postmigration“ (2022, Unrast Verlag).

(Text: Ömer Alkin)

Jolanda Wessel absolvierte ein Studium der Kunstgeschichte und Romanistik in Freiburg i. Br., Paris und Düsseldorf. Als Promotionsstipendiatin der Studienstiftung des Deutschen Volkes forscht sie zum Werk Hito Steyerls. In ihrer Dissertation betrachtet sie Steyerls Oeuvre ausgehend von deren Konzept des „armen Bildes“ und fasst das Gesamtwerk als ein intermediales „Verbundsystem“ aus Video-Installationen, Essays und Performance-Lectures. Wessel lehrt an der Hochschule Düsseldorf und arbeitet an einem Forschungsprojekt zum Thema Mutterschaften in der Kunst. Sie ist Mitherausgeberin des Readers Text\Werk. Lektüren zu Hito Steyerl (2022, Hatje Canz Verlag).

Dr.in Lena Geuer ist Kunsthistorikerin. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunst und Musikwissenschaft der TU Dresden und lehrt transkulturelle Kunstgeschichte mit einem Schwerpunkt auf moderner und zeitgenössischer lateinamerikanischer Kunst. Promotion im Rahmen des Graduiertenkollegs „Materialität und Produktion“ an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf über die argentinische Kunst. In ihrem Habilitationsprojekt untersucht sie das Konzept des Verzichts und dessen ästhetische Bedeutung an der Schnittstelle von Kunst und Ökologie. Ihr Buch „Arte Argentino: Ästhetik und Identitätsnarrative in der argentinischen Kunst. Ausgewählte Werke von Marta Minujín und Luis Felipe Noé“ ist im August 2022 im transcript Verlag erschienen.

 

Allgemein zur Filmreihe:

Postmigrantische Audiovisionen sind Utopien einer Migrationsgesellschaft, einer Gesellschaft, die existiert. Der Wissenschaftshistoriker Michel Foucault hat solche realisierten Utopien mit dem Begriff der Heterotopien bezeichnet: den anderen Orten. Diesen Heterotopien, oder auch „Transtopien“ (Yildiz 2021), geht die gleichnamige Filmreihe nach. Die Filmreihe fragt so nach den Historien und Genealogien sowie dem Diskursrandständigen, das filmisch-ästhetische Entwürfe im deutschsprachigen Film abwerfen. Im Zentrum stehen so Filme, die sich entlang von diskursreißerischen Themenfeldern verorten lassen: rund um Migration, Rassismus, Islam, Antisemitismus, Rechtsextremismus. Doch sie erschöpfen sich nicht im Diskursiven. Vielmehr zieht jeder Film immer wieder neue Risse in unser Denken, Fühlen und Empfinden ein: in stabilisierte, machtvolle Hegemonien wie es die Integrationsdispositive oder das Rassistische ist; und manchmal reproduzieren die Filme jene Dynamiken durch ihre ästhetischen komplex fungierenden Entfaltungen.
Präsentiert werden Filme zu Themenkomplexen des postmigrantischen Zusammenlebens, aus einer Perspektive, die die Filme nicht von verknöcherten Diskursen heraus befragen will („Postmigrantische Visionen“, Hill und Yildiz 2018); vielmehr werden die Filme selbst als Gelegenheit betrachtet, andere, postmigrantische Perspektiven zu entwickeln: postmigrantische Audiovisionen eben. Gäste aus Wissenschaft, Film, Bildung und Politik werden das verhandelte Themenspektrum gemeinsam mit den Zuschauer:innen in Anschlussgesprächen an die Filmscreenings ausloten. Denn: Auch wenn diese Heterotopien in den Filmen existent gemacht werden, kann erst das Wahrnehmen und Sprechen über sie das Utopische in ihnen hervorkehren.

Die Filmreihe wird veranstaltet vom Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Niederrhein und entsteht in Kooperation mit dem „Forum Postmigrantische Perspektiven“.

Konzept und Kontakt: Prof. Dr. Ömer Alkin, oemer.alkin@hs-niederrhein.de